Das Bild zeigt zwei Hochhäuser, ein älteres und ein neueres, die durch eine Brücke verbunden sind. Der Übertritt vom einen zum anderen Gebäude erfordert Achtsamkeit.

Warum müssen wir Achtsamkeit entwickeln und Compliance reduzieren?

 

In unserem vergangenen Beitrag „Qualitätsprinzipien: Gestaltung und Vielfalt“ hatten wir Ihnen zwei der sechs richtungweisenden Prinzipien vorgestellt. Die Quintessenz lautete, dass Qualität in der VUKA-Welt verlangt, Prozesse zu lockern, Kontrolle aufzugeben und Diversität zu fördern. Im vorliegenden Beitrag werden wir ausführen, warum die Achtsamkeit der Mitarbeitenden ein Schlüsselfaktor für Qualität ist, dessen Bedeutung ständig wächst. Es gilt, sie zu fördern und ihr optimale Entfaltungsmöglichkeiten einzuräumen. Dazu müssen wir den Stellenwert und den Umfang von Compliance-Anforderungen massiv reduzieren.

Zur Erinnerung:

Wie ist mit den Qualitätsprinzipien zu arbeiten?

Um die von uns empfohlenen Prinzipien zu verdeutlichen, haben wir sie jeweils in Opposition zu einem Gegenspieler gesetzt: Prinzip A statt Prinzip B

Die Formulierung „A statt B“ soll heißen:

Entscheiden Sie sich im Zweifelsfall immer zugunsten von A! Wenden Sie A so großzügig an, wie es Ihnen vertretbar erscheint und greifen Sie nur an den Stellen zu B, an denen Sie es für unerlässlich halten!

 

Qualitätsprinzip 4: Achtsamkeit statt Compliance

Bewusstheit, Verantwortlichkeit und Agilität fördern!

Motivation, Kreativität, psychologische Eigentümerschaft und Agilität
sind entscheidende Qualitätsfaktoren.

Das Bild zeigt einen Krankenpfleger, der einen wohl bewusstlosen Patienten betreut. Durch das Entwickeln von Achtsamkeit und das Reduzieren von Compliance entsteht eine hohe Qualität von Pflege.

Dass Motivation, Kreativität und psychologische Eigentümerschaft von großer Bedeutung für die Qualität der Arbeit sind, wird schon länger nicht mehr ernsthaft bestritten. Mittlerweile sollten wir auch gelernt haben, dass Agilität, das heißt, Beweglichkeit, rasche Veränderungsfähigkeit und Proaktivität, zu einer Grundvoraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit geworden ist. Die vernünftige Konsequenz aus diesen Erkenntnissen kann doch nur sein, umgehend Arbeitsbedingungen zu schaffen, die diese Haltungen und Kompetenzen fördern, und alles wegzulassen, was ihrer Entfaltung im Weg steht. Überraschenderweise sieht die reale Welt in weiten Bereichen ganz anders aus: Im Vordergrund steht allzu oft die Einhaltung vorgegebener Regeln und die Ausführung standardisierter Abläufe (Compliance).

Compliance kann nicht mit Komplexität und Disruption umgehen

Auch das konventionelle Qualitäts-Management setzt stark auf die Ausführung standardisierter, dauerhafter Prozesse, auf Compliance. Diese Vorgehensweise soll der systematischen Vorbeugung von Qualitätsmängeln dienen. Wie das gesamte konventionelle Management, entstammt das Compliance- und Vorbeugungs-Konzept der industriellen Epoche des vergangenen Jahrhunderts. Es bietet ein brauchbares Vorgehen zur Qualitätssicherung bei Massenfertigung mit wenig qualifizierten Mitarbeitenden, unter stabilen Marktbedingungen. Aber solche Bedingungen finden wir immer weniger vor: Tatsächlich entwickeln sich die Märkte rasant, disruptiv und in unüberschaubare Differenzierungen. Und die Mitarbeitenden sind gut qualifiziert, verfügen über ungenutzte Potenziale und stellen Ansprüche an die Qualität ihrer Arbeitsplätze. Eine Compliance-orientierte Arbeitswelt entspricht nicht mehr den Anforderungen unserer Wirklichkeit.

Wie wir schon in unserem Beitrag Qualitätsprinzipien: Gestaltung und Vielfalt ausgeführt haben, verlangt Qualität in der VUKA-Welt,  dass wir Prozessketten lockern und Gestaltungsspielräume schaffen. Damit verliert das industrielle Compliance-Prinzip, das auf die exakte Ausführung perfektionierter Standardprozesse zielt, zunehmend an Tauglichkeit. Dies gilt bereits, um auf die heute ganz normalen, auch kurzfristigen Veränderungen von Kundenwünschen und Zulieferungen rasch reagieren zu können. Umso mehr gilt es für die Fälle von disruptiven Veränderungen, bei denen ganze Produktfamilien und/oder Produktionsweisen von einem auf den anderen Tag OUT sind. 

Compliance blockiert Potenziale

Nach dem ausdrücklichen Willen der Normen sollen kontinuierliche Verbesserungen und Innovationen gefördert werden. Selbst für das auch aus der industriellen Welt stammende Konzept der kontinuierlichen Verbesserung, wirkt der Compliance-orientierte Ansatz aber kontraproduktiv.

In Compliance-orientierten Organisationen werden die Mitarbeitenden grundsätzlich auf die Ausübung einer festgelegten Funktion reduziert. Gleichzeitig wird nun erhofft, dass sie in lichten Momenten über sich hinauswachsen und nützliche Ideen zur Verbesserung des Systems beisteuern. Schon bei kleineren, arbeitsplatzbezogenen Verbesserungen wird dies üblicherweise mit individuellen Prämien garniert, da man wohl erwartet, dass sich ohne Extra-Karotte gar nichts täte. Innovationen werden ohnehin nur der Entwicklungsabteilung zugetraut.  Motivation, Kreativität und psychologische Eigentümerschaft entwickeln sich unter solchen Bedingungen kaum. Ein großer Schatz von Mitarbeiterpotenzialen bleibt unerkannt und ungenutzt. Damit wächst die Gefahr, die Wettbewerbsfähigkeit als Unternehmen zu verlieren.

Es ist beeindruckend, zu erleben, welche Verbesserungen möglich sind, wenn Complianceanforderungen reduziert und Spielräume für weitgehende Selbstorganisation der Mitarbeitenden geschaffen werden. In dem von uns wegen seiner orientierenden und ermutigenden Kraft geschätzten Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux (sehr gute Zusammenfassung hier) findet sich eine Reihe von Beispielen gelingender Selbstorganisation. Eine Unternehmensentwicklung in diese Richtung ist aber herausfordernd. Achtsamkeit ist eine Haltung und Kompetenz, die Sie dafür in der Organisation entwickeln müssen.

Achtsamkeit ist eine Haltung und Kompetenz, die benötigt wird, um auf Compliance verzichten zu können.

Achtsamkeit ist ein der buddhistischen Tradition entstammendes Konzept und wird daher gern den Bereichen der Spiritualität und Esoterik zugeordnet. Dabei ist Achtsamkeit ein höchst relevantes Prinzip für professionelle, verantwortliche Arbeit und die Führung von Organisationen. Sie ist unerlässlich, um auf Compliance verzichten und Selbstorganisation entfalten zu können. Sie ist nötig, um Qualität in der VUKA-Welt zu erzeugen und zu sichern.

Achtsamkeit (engl. Mindfulness) ist eine Qualität des menschlichen Bewusstseins, eine besondere Form von Aufmerksamkeit. Es handelt sich dabei um einen klaren Bewusstseinszustand, der es erlaubt, jede innere und äußere Erfahrung im gegenwärtigen Moment vorurteilsfrei zu registrieren und zuzulassen.“
[DFME | Deutsches Fachzentrum für Achtsamkeit]

Achtsamkeit ist also in diesem Verständnis ein Bewusstseinszustand, eine „hellwache“ Wahrnehmung, dessen, was gerade passiert. Zunächst ohne Bewertung. Das ist bedeutsam, weil im normalen, halb- bis unbewussten Wahrnehmungsvorgang unaufhörlich Bewertungen stattfinden, die dazu führen, dass Vieles als „nicht interessant“ oder „nicht richtig“ ausgefiltert wird.

Achtsamkeit soll uns ein vergrößertes Handlungsrepertoire eröffnen. Sie soll uns befähigen, automatisierte Reiz-Reaktionsabläufe, Routinen, Gewohnheiten, Muster und Vorurteile bewusst wahrzunehmen und zu bearbeiten. Achtsamkeit soll neue Gedanken zulassen und uns bei ihrer behutsamen Erprobung und Umsetzung begleiten. Letztlich soll sie uns in die Lage versetzen, mit den Unsicherheiten und Risiken der VUKA-Welt produktiv umzugehen.

Achtsamkeit kann als Haltung und Kompetenz wachsen, wenn den arbeitenden Menschen

  • Volle Verantwortlichkeit für ihre Arbeit übertragen wird
  • Gestaltungsräume für die Gestaltung ihrer Arbeit eingeräumt werden
  • Vertrauen in ihre Kompetenz und Zuverlässigkeit entgegengebracht wird
  • Vorbehaltlose Unterstützung angeboten wird.

Den Menschen soll möglichst wenig vorgegeben werden, was sie wie zu tun haben. 

Um Achtsamkeit zu fördern, soll den Menschen vermittelt werden, wofür und wozu ihre Arbeit dient, und  worauf sie besondere Aufmerksamkeit richten sollen.

Das Bild zeigt eine amerikanische Soldatin, wohl im Nahen Osten, die einem einheimischen Kind ein Spielzeug gibt. Mit dem Entwickeln von Achtsamkeit und dem Reduzieren von Compliance kann eine neue Qualität der Beziehungen entstehen.

Achtsamkeit macht Risiken zu Chancen

Durch das Entwickeln von Achtsamkeit und das Reduzieren von Compliance ergibt sich die Chance, dass eine neue Qualität von Arbeit und Zusammenarbeit entsteht. Indem wir die Rolle von Compliance als Handlungsprinzip zurückfahren, verzichten wir (vermeintlich) auf Stabilität und Kontrolle und gehen Risiken ein. Diese Risiken sollten wir achtsam managen. So ist es notwendig, vor dem Abschaffen einer Regel zu vereinbaren, wie der dadurch entstehende Freiraum gestaltet werden soll. Im selben Maß wie wir Aktivitäten wie Planen, Regeln und Kontrollieren reduzieren, müssen wir eine neue Arbeitsweise praktizieren. Diese, auf Achtsamkeit beruhende Arbeitsweise heißt Spüren-und-Antworten (Frederic Laloux). Sie bedeutet, ganz im Hier-und-Jetzt zu sein, ganz präsent, in dem, was wir gerade tun, und gleichzeitig immer das größere Ziel der Tätigkeit vor Augen zu haben. Dazu müssen wir uns unaufhörlich an die sich verändernden Bedingungen anpassen. In der Agilen Softwareentwicklung wird diese Arbeitsweise bereits weitgehend praktiziert.

Und übersetzt in eine grundlegende Strategie der Unternehmensführung, wird Spüren-und-Antworten so beschrieben:

Herkömmliche Unternehmen schauen fünf Jahre in die Zukunft und planen für das nächste Jahr. Wir versuchen, wie Bauern zu arbeiten. Wir schauen 20 Jahre in die Zukunft und planen für den nächsten Tag.
[Geschäftsführung Fa. FAVI, zitiert nach Frederic Laloux]

 

Achtsamkeit entwickeln und Compliance reduzieren!

Wir stellen Achtsamkeit in den Gegensatz zu Compliance. Mit dem Zurückfahren des Stellenwerts von Compliance rufen wir keineswegs zu Chaos oder Anarchie auf. Selbstverständlich sind Gesetze und gültige Regeln zu befolgen. Wir sollten aber so wenig wie irgend vertretbar auf Anordnungen und Anweisungen setzen, da diese immer mit einer Verringerung von Bewusstheit, Verantwortlichkeit und Agilität einhergehen. 

Zeitgemäße und zukunftsfähige Qualität verlangt, Compliance als Handlungsprinzip abzubauen und Achtsamkeit zum führenden Handlungsprinzip zu entwickeln.

Wie Sie die Qualitätsprinzipien konkret umsetzen können, erfahren Sie in unserem

Buch Quality Reinvented!

Ab 09.11.2020 im Handel.