In den beiden Beiträgen „Das Elend der Qualität“ und „Der Kernfehler des Qualitätsmanagements“ hatten wir dargestellt, warum die Qualität aus dem Fokus der Unternehmen verschwunden und in eine Nebenwelt von Spezialisten umgesiedelt ist. Nun wollen wir betrachten, welchen Anforderungen Qualität in der VUKA-Welt zu genügen hat. Dazu verwenden wir die klassische Definition von Philipp B. Crosby, der den Qualitätsbegriff von Joseph M. Juran als „fitness for use“ präzisiert hat:
Genügt es, gesetzliche Regeln, geltende Standards und vertragliche Vereinbarungen einzuhalten? Wenn ein Produkt exakt die spezifizierten Leistungen erbringt, um dann unmittelbar nach Ablauf der Garantiezeit ein Opfer geplanter Obsoleszenz zu werden, ist das ein Qualitätsprodukt? In welchem Grad erfüllt es „die Anforderungen“? Ist ein minutiös durchgezogenes Standardtraining, das alle beauftragten Inhaltspunkte behandelt, ein gutes Beispiel für Dienstleistungsqualität? Sind der BMW X7 oder der Mercedes GLS, beides SUVs mit über 5 m Länge, 2,5 Tonnen Gewicht und bis zu 500 PS Leistung, und damit Fahrzeuge, die in weit überdurchschnittlichem Ausmaß die Verkehrssituation, die CO2-Bilanz und den gesellschaftlichen Konsens belasten, Qualitätsprodukte? Kann ein handwerklich makelloses Kleidungsstück, das durch Kinderarbeit gefertigt wurde, ein Qualitätsprodukt sein? Ist ein bis in das letzte Detail und auf den letzten Cent durchrationalisierter, globaler Just-in-Time Beschaffungsprozess Inbegriff von Prozessqualität oder gar Exzellenz? Und gibt es nicht zunehmend Arbeitsprozesse, etwa in der Softwareentwicklung, bei denen bewusst darauf verzichtet wird, das angestrebte Ergebnis vorab festlegen zu wollen? An welchen Anforderungen bemisst sich hier die Qualität?
Diese Fragen werden von unterschiedlichen Menschen und sogar von den selben Menschen zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich beantwortet. Wir können feststellen:
Entgegen allen gegenteiligen Behauptungen und Bemühungen, ist Qualität etwas Relatives, Subjektives, Individuelles.
Üblicherweise wird dieses Privileg „dem Kunden“ zugeschrieben. Obwohl weit überwiegend nicht der Kunde, sondern der Produzent bzw. Dienstleister die Anforderungen bestimmt. Der versucht nämlich einzuschätzen, was der Kunde zu kaufen bereit ist, liefert, wozu er in der Lage ist, und bemüht sich, mithilfe von Marketing und Werbung, den Kunden zu überzeugen, dass dies genau das ist, was seinem Bedürfnis entspricht. Schon William Edwards Deming räumte ein, dass Qualität nur vom Produzenten definiert werden kann (William E. Deming 1982).
Der Hersteller einer Leistung wählt aus dem Kosmos möglicher Anforderungen diejenigen aus, denen er entsprechen möchte und entscheidet dann, in welchem Umfang und auf welche Weise er das tut.
In wesentlich komplexerer Weise als je zuvor in der Menschheitsgeschichte, sind die heutigen Unternehmen mit übergreifenden (Makro-) Anforderungen konfrontiert.
Qualität in der Welt von heute und morgen muss folgenden Phänomenen gerecht werden:
Wir nennen hier nicht die COVID-19-Pandemie und ihre Folgen. Sie ist in unserer Sichtweise Ausdruck und Konsequenz vor allem der Globalisierung und der VUKA-Charakteristik unserer heutigen Welt.
Qualität kann in unserer vernetzten Welt nur entstehen, wenn die übergreifenden Anforderungen der natürlichen und sozialen Umwelt, der Makro-Ökonomie und der Menschen angemessen erfüllt werden.
Qualität in der VUKA-Welt ist selbst ein VUKA-Phänomen:
In der VUKA-Welt kann Qualität nicht mehr als feststehende, „inhärente“ Eigenschaft von Dingen verstanden werden, die von außen, aufgrund von allgemein gültigen Kriterien überprüfbar ist.
Wir haben uns in unserem Buch Quality Reinvented! daran gemacht, ein radikal neues, prozesshaftes Qualitätsverständnis zu entwickeln. Ab 22.10.2020 werden wir es Ihnen in mehreren Beiträgen vorstellen.
Einstweilen danken wir sehr für Ihr Interesse und freuen uns auf Ihre Kommentare.
Quality Reinvented! – Das Buch. Ab 09.11.2020 im Handel
Hallo Hr.Ostner, wertes QRI Team – mit großem Interesse (und Freude) hab ich auf Ihrer Seite gestöbert. ich erlaube mir einen Kommentar – meine Meinung, ganz persönlich zum Post von Hr.Ostner.
Der Qualitäts Begriff hat sich auch nach meiner Wahrnehmung sehr verändert. Die Wurzeln und grundlegenden Anforderungen sind bunt überpinselt worden und nur noch mitgeschultem Auge erkennbar (des Kaisers neue Kleider).
Zumindest in D waren ja bekanntermaßen einige wenige §§ des BGB (speziell 800er §§) die Mutter aller Überlegungen/Anforderungen der ersten DIN 9000 Serie.
Und was sich meiner Wahrnehmung nach noch verändert hat – die Awareness bzgl. der grundsätzlichen Herausforderungen, die abgesehen von QS m.E. nie eine technologische Herausforderung waren.
Komplexität hat scheinbar zugenommen – das Empfinden der Kompliziertheit zweifellos.
Es basiert m.E. auf den oft sinnentleerten Darstellungen und Abstraktionen. Auf konkrete Anforderungen heruntergebrochen, würde sich zeigen, dass sich de facto tatsächlich nur die Komplexität geändert hat – und diese auch nur m.E. quantitativ, die Zahl „altbekannter“ Verknüpfungen hat sich um Faktoren geändert.
Noch ein Satz zur heute fehlenden Awareness – multikulturelle Unterschiede oder gar Inkompatibilitäten wurden zu Beginn der Globalisierung als Rootcause für gescheitertes Verlagern von Produktion/Entwicklung erkannt und ERNST genommen. Heute? Sucht man IT Lösungen?
Ein befreundeter CEO (German Business Pool) konnte mir das kürzlich in einer Diskussion bestätigen.
Viele Grüße
Martin Schön
Hallo QRI Team, nur ein Snapshot – ich finde es smart (sehr) sich auch auf die „historischen“ Grundlagen und Erkenntnisse des Qualitätswesens und der handelnden Akteure und Org.Strukturen (Menschen) zu beziehen. Nach meiner Erfahrung (aus 40 Jahren) und meinem Gefühl, haben sich die Probleme und Anforderungen grundsätzlich nicht geändert – nur der Umgang damit. Die Beschreibungen werden immer weniger konkret, hochaggregiert zu einer nicht mehr fassbaren Komplexität – black magic? Nur als Beispiel – die sinnvolle Vernetzung und der Abgleich der Ablauforganisation, mit der Aufbauorganisation, als ein wesentliches Element von sinnvollen Strukturen…gibt es nicht mehr 🙂 BMS ist sicher die Überschrift.
In diesem Sinne – Alles Gute
Martin Schön
PS. Nur als Beispiel – die sinnvolle Vernetzung und der Abgleich der Ablauforganisation, mit der Aufbauorganisation, als ein wesentliches Element von sinnvollen Strukturen – gibt es begriffliche nicht mehr?? BMS/BPMS waren bis vor 5 Jahren DIE Synonyme, bereits nicht mehr griffig. Anyway und apropos „VUKA“ musste ich googeln 🙂
Neue,erfrischende und dem modernen Zeitgeist angemessenen Gedanken zu einem sich stets verändernden Qualitätsbegriff in einer immer komplexeren und komplizierteren,in ihren Ansprüchen wachsenden Welt.