Bild eines Verkehrsschilds mit der Aufschrift "Wrong Way". Es warnt also vor einem Irrweg

Die Verirrung des Qualitätsmanagements

 

Irrsinn heißt, wir haben uns im Sinn geirrt.

 

Es gibt eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem, was im Qualitätsmanagement (QM) gelehrt, praktiziert und kommuniziert wird und was Mitarbeitende und Führungskräfte davon als sinnvoll und wertschöpfend empfinden. Diese Aussage bedarf keiner Statistik, keiner Datenbasis und keiner groß angelegten Umfrage. Sie, liebe Leserin und lieber Leser, werden es auf Grundlage Ihrer eigenen Erfahrung bestätigen. Wir können dem QM-Irrweg jeden Tag und an jeder Ecke begegnen:

Da sind die QM-Trainer, die gleich zu Beginn ihrer Seminare die Teilnehmer auffordern: „Streichen Sie das Wort ‚Qualität‘ aus ‚Qualitätsmanagement‘!“. Da sind die QM-Instanzen, die QM in den Stand einer eigenständigen Managementdisziplin erheben. Die Qualität in Funktionen (QM-Abteilung) und Systeme (QM-System) „abteilen“ und dann versuchen, alle wieder dafür zu gewinnen. Da sind die Qualitätsmanagementbeauftragten, die nichts anderes mehr machen, als First Party-, Second Party- und Third Party-Audits zu planen, vorzubereiten, durchzuführen und den geforderten Maßnahmen hinterherzulaufen, obwohl die Auditierten und die Geschäftsleitung ganz andere Probleme drücken. Da sind Beratungsunternehmen, die Geschäftsprozessmanagement, Projektmanagement, Lean-Production, SCRUM und dergleichen in den Unternehmen einführen, um bessere Produkte kostengünstiger herzustellen und die Kundenzufriedenheit zu erhöhen. Dass es sich hier um wirkliches „Qualitätsmanagement“ handelt, wird nicht zum Thema gemacht. Wir beobachten all das und fühlen uns unbehaglich damit. Aber: Es ändert sich nichts.

„The elephant in the room”. So wird im angelsächsischen Sprachraum ein offensichtliches Problem benannt, das nicht adressiert wird, weil man sich aus irgendwelchen Gründen nicht traut. Zum Beispiel, weil man damit gegen eine übermächtige, herrschende Lehre verstieße. Unser Elefant heißt Qualitätsmanagement und wir sehen in ihm einen Repräsentanten und Produzenten von Verirrungen. Er beansprucht viel Platz und frisst massenhaft Energie. Energie, die dringend gebraucht würde – für produktive Arbeit. Zum Führen und Managen unserer Unternehmen in diesen wirklich nicht einfachen Zeiten.

 

Der Irrsinn im Konstrukt – Warum kann Qualitätsmanagement keine Managementdisziplin sein?

 

 „Qualitätsmanagement ist Management bezüglich Qualität.“  [ISO 9000:2015]

 

Haben Sie über diese Definition schon einmal nachgedacht? Nein? Dann lassen Sie uns das jetzt gemeinsam tun.

Gründe der Verirrung

Letztlich betrachten wir hier ein Erbe der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. Mit dem Ziel, die Produktivität der Industriebetriebe zu erhöhen, entwickelte der US-amerikanische Ingenieur Frederick Winslow Taylor Grundsätze der Arbeitsorganisation, die auch den Ursprung der Entwicklung des Qualitätswesens bilden. Das Grundprinzip von Taylors Scientific Management [Taylor, 1911] war die Trennung von Kopf- und Handarbeit und, damit verknüpft, die Entqualifizierung der Arbeiter. Die Gesamtleistung des Betriebes sollte dadurch maximiert werden, dass jeder Arbeiter nur noch einzelne, durch das Arbeitsbüro genauestens vorgegebene, mechanisch optimierte Bewegungsabläufe durchführte.

Im Arbeitsbüro finden wir den Vorläufer der Arbeitsvorbereitungs- und Qualitätsabteilungen: eine von der Produktion und dem Management abgetrennte, betriebliche Spezialistenabteilung, die, versehen mit den Weihen der „Wissenschaftlichkeit“, hohe Produktivität und Qualität planmäßig sicherstellen sollte. Da sich die Realität aber immer wieder auch der besten Planung entzieht, wurde zusätzlich das Berufsbild des Qualitätskontrolleurs oder „Inspekteurs“ geschaffen. Dessen Aufgabe war es, quasi als langer Arm des Arbeitsbüros, defekte Produkte zu entdecken und auszusortieren.

Auf die Ära der puren Qualitätskontrolle folgten die statistische Qualitätssteuerung um 1930 und die Einführung von Vorbeugemaßnahmen um 1960. Diese Vorgehensweisen werden noch heute unter dem Begriff Qualitätssicherung (QS) zusammengefasst. In den darauffolgenden Jahren wurden weitere Methoden und Werkzeuge entwickelt, die organisationsumgreifend eingesetzt werden sollten. Es entstand Qualitätsmanagement (QM).

Qualitätssicherung bzw. qualitätssichernde Maßnahmen sollen gewährleisten, dass die hergestellten Produkte in Ordnung sind, das heißt den zugrunde gelegten Anforderungen entsprechen. Qualitätssicherung ist somit ein natürlicher Bestandteil des Herstellprozesses und integrale Aufgabe des Managements. Das Prüfen und Freigeben eines Angebots vor der Abgabe ist QS. Der monatliche Projektmanagementbericht dient der QS. Die Berechnung einer Festigkeit ist QS. Jedes Unternehmen betreibt notwendigerweise QS. Jede Managementmethode beinhaltet einen Anteil an QS. Für QS braucht es weder eine Qualitätsmanagementabteilung noch eine Zertifizierung. Erst recht braucht es nicht Qualitätsmanagement als eigene Managementdisziplin. Letzteres Verständnis wird noch heute von der Mehrzahl der Wirtschaftswissenschaftler gepflegt. Ein fataler Fehler.

 

Der Kernfehler

Teilbereiche des funktionalen Managements werden auch als Managementdisziplinen bezeichnet. Managementdisziplinen sind z.B. Finanzmanagement, Projektmanagement, Lieferantenmanagement, Umweltmanagement, Arbeitssicherheitsmanagement, Energiemanagement (Bild 1.1). Managementdisziplinen haben gemeinsam, dass sie spezifische Anforderungen erfüllen bzw. dafür sorgen, dass diese erfüllt werden. So sorgt Personalmanagement dafür, dass die Anforderung des Personals und an das Personal erfüllt werden. Finanzmanagement sorgt dafür, dass die finanziellen Anforderungen erfüllt werden. Umweltmanagement stellt sicher, dass die Anforderungen der Umwelt und an die Umwelt erfüllt bzw. angemessen berücksichtigt werden. Was aber erfüllt Qualitätsmanagement?

 

Die Grafik zeigt Qualitätsmanagement als eine der verschiedenen Managementdisziplinen

Dass Qualitätsmanagement als separate Managementdisziplin verstanden, gelehrt und als eigenständiges System betrieben wird, ist der Kernfehler und die reich sprudelnde Quelle von Verirrungen.

„Qualität ist die Erfüllung von Anforderungen“ [Philip B. Crosby].

Qualität ist (hoffentlich) das Ergebnis von (gutem) Management. Mache ich aus dem Ergebnis eine eigene Disziplin, ist Selbstzweck vorprogrammiert. Die Definition 

„Qualitätsmanagement ist Management bezüglich Qualität“ [ISO 9000:2015]

ist der dazu gehörige Offenbarungseid.

 

Grafik zeigt Qualitätsmanagement als Teilbereich des Managements, das heißt Qualität wird vom Management getrenntt

Lassen Sie Bild 1.2 einfach einmal auf sich wirken. Das Bild zeigt die Botschaft, die wir mit Qualitätsmanagement (unbewusst) senden. Qualitätsmanagement isoliert Qualität vom Rest des Managements! Welches Management findet in dem äußeren Bereich statt? Spielt da Qualität keine Rolle? Geht es hier nicht um die Erfüllung von Anforderungen?

Qualitätsmanagement isoliert Qualität vom Management! Ein separates Qualitätsmanagement ist ein Hinweis dafür, dass das Unternehmensmanagement seine Verantwortung für die Kernprozesse des Unternehmens nicht angemessen wahrnimmt.

 

Wenn das Unternehmen ein Problem mit Qualität hat, schauen alle mit vorwurfsvollem Blick den Qualitätsmanager an und beauftragen ihn, das Problem aus der Welt zu schaffen. Der wird seinen Spezialistenwerkzeugkasten öffnen, eine Ursachenanalyse durchführen und, darauf basierend, Abhilfemaßnahmen vorschlagen. In den meisten Fällen wird dabei herauskommen, dass operative Mitarbeiter*innen irgendwelche Regeln nicht angemessen umgesetzt haben. Daher werden die Mitarbeitenden diszipliniert, an die Regularien erinnert, nachgeschult. Eventuell werden neue, schärfere Regeln eingeführt.

Der Betrieb einer Disziplin namens Qualitätsmanagement durch eine vom Wertschöpfungsprozess abgetrennte Abteilung, impliziert, dass das Unternehmensmanagement seine Verantwortung für die Kernprozesse des Unternehmens nicht angemessen wahrnimmt.

Statt dass alle in den Spiegel schauen und beraten, was sie, individuell und kollektiv, tun sollten, um nachhaltig Qualität zu erzeugen, delegiert man das Thema an eine Stabsstelle, die nicht die Macht hat, wirklich grundlegende Maßnahmen durchzusetzen. Sie muss sich damit begnügen, in der ihr zugestandenen Welt der Normen und Formalien zu operieren, wird aber damit getröstet, dass sie Urteile und Verfügungen in Bezug auf das Verhalten der noch Schwächeren, der operativen Mitarbeiter*innen erlassen darf. Qualitätsmanagement wirkt als Stabilisator der bestehenden, hierarchischen Strukturen und Rollenverteilungen. Qualitätsmanagement bekräftigt effektiv die Grundregel, dass das Management im Zweifelsfall keine Verantwortung für operative Probleme hat. Für Erfolge dagegen schon: Uns ist kein Fall bekannt, dass ein Qualitätsbeauftragter dafür gepriesen wurde, dass das Geschäft gut läuft. Qualitätsexperten sind ja im Grunde auch keine Experten für Qualität. Sie sind Experten für die Umsetzung der Normen und für Fehleranalysen.

 

Nochmal gesagt:

Wir halten QM für eine Fehlentwicklung und das Selbstverständnis von QM als Managementdisziplin für einen fatalen Irrtum.

Das Gleiche gilt übrigens für Risiko- und Changemanagement. Davon wird noch die Rede sein.

Quality Reinvented! Ab 09.11.2020 im Handel