Norm- und Systembefriedigung

Verirrung Nr. 1: Die Normbefriedigung

„Wir müssen unser Qualitätsmanagementsystem der neuen Norm anpassen.“

Immer wenn eine Norm revidiert wird, fällt dieser Satz, in jedem zertifizierten Unternehmen. Der Satz erscheint uns so normal und geläufig, dass wir seine Tragweite, seine Verirrung nicht reflektieren.

Ein Gedankenspiel: Sie sind Inhaber eines erfolgreichen, mittelständischen Unternehmens. Sie führen das Unternehmen in der dritten Generation. Sie kennen den Markt und Ihren Wettbewerb. Sie haben gute Produkte. Die Kunden sind zufrieden. Natürlich haben Sie Ihre Probleme, aber insgesamt läuft das Geschäft richtig gut. Frage: Was passiert, wenn Sie jetzt ihr funktionierendes Managementsystem an eine neue Norm anzupassen haben? Ohne dass Ihre Geschäftstätigkeit solche Veränderungen erfordern oder auch nur spürbar davon profitieren würde? Es liegt auf der Hand, dass Sie diese Anforderungen eher als störend denn als willkommen empfinden werden. Sie werden auf einmal im Unternehmen seltsame Dinge zu tun haben, die Sie vorher nicht getan haben und Dokumente erstellen, die sie vorher nicht gebraucht haben. Ihr QMB wird Ihnen die schlechte Botschaft überbringen, dass die Anpassung an die neue Norm viel Zeit und Geld kosten wird. Sie werden ihm zähneknirschend Budgetmittel zur Verfügung stellen. Ihre Meinung über QM wird sich dadurch wohl eher nicht verbessern.

In den drei Jahren, in denen die Unternehmen ihr QMS auf die neue Norm anpassen müssen, um ihr Zertifikat zu behalten, verdienen sich QM-Berater und -Akademien goldene Nasen. Sie bauen Handlungsdruck mit Sätzen auf, wie: „Um die Forderung des neuen Kapitels XY zu erfüllen, müssen Sie dies und jenes tun!“ Vor dieser Verirrung sind selbst die renommiertesten Unternehmen nicht gefeit. Eine Qualitätsfachkraft eines deutschen Premium-Automobilherstellers berichtete Ende 2015, dass das Unternehmen aufgrund der Revision 2015 der ISO 9001 in all seinen Prozessblättern eine Spalte mit Chancen und Risiken aufgenommen hat. Sie taten dies, um dem Ansatz des Risikobasierten Denkens zu entsprechen. Das Management des Unternehmens selbst fand dieses Vorgehen irrsinnig. Es war ein Akt der puren Norm- bzw. Systembefriedigung aufgrund von einer unangemessenen Interpretation der Norm, wie sie von Experten der Fachschaft Qualität, von Bildungseinrichtungen und nicht zuletzt von schlechten Zertifizierungsauditoren vertreten wird.

Klassische Ergebnisse solcher Fehlinterpretation und Systembefriedigung sind:

  • QM-Handbuch nach Normkapiteln
  • Qualitätspolitik im Handbuch, vom QMB geschrieben
  • Kapitel Kontext der Organisation im QM-Handbuch
  • Tabelle der interessierten Parteien mit ihren Erfordernissen und Erwartungen
  • Tabelle oder Absatz mit Risiken und Chancen in Prozessbeschreibungen
  • Stellenbeschreibungen, die vor einem Audit mit großem Aufwand aktualisiert werden und im Arbeitsalltag nicht benötigt werden
  • Auditprogramme nach Normkapiteln
  • 8D-Reports mit 8 Feldern und einer Zeitvorgabe für die Erstellung
  • FMEAs, in die Risiken eingetragen werden, für die es schon Lösungen gibt
  • Das Erheben von Prozesskennzahlen, die keiner benötigt
  • Managementreview-Bericht, vom QMB geschrieben und von der GF unterschrieben.

Der Grundstein zur Normbefriedigung wird ganz unauffällig mit dem Auftrag der Geschäftsführung an den QMB gesetzt, eine Zertifizierung zu erlangen oder aufrecht zu erhalten. Der QMB möchte seine Arbeit gut machen und strebt ein Audit ohne Abweichungen an. Also wird er eine umfangreiche Dokumentation erstellen, die er dem Zertifizierungsauditor präsentieren kann. Dafür erhält er Lob vom Auditor. Nach dem erfolgreich bestandenen Audit bekommt er dann Lob von der Geschäftsführung. Good Job! Das Problem dabei: Es wurde nur die Norm befriedigt und das QMS herausgeputzt, aber kein wirklicher Mehrwert für das Unternehmen erzeugt. Diese System- bzw. Normbefriedigung ist die Regel, nicht die Ausnahme.

Norm- und Systembefriedigung

 

Verirrung Nr. 2: Die Systembefriedigung

Wir füttern und befriedigen das System, anstatt uns um die Bedürfnisse der Kunden und des Unternehmens zu kümmern.

Systembefriedigung finden wir in vielen Bereichen des Unternehmens und in der Gesellschaft. Das Charakteristische an der Systembefriedigung ist, dass Mittel und Zweck vertauscht sind. Menschengemachte Systeme sollen Mittel zu einem Zweck sein. Ein Managementsystem ist ein Mittel zum Führen und Steuern einer Organisation [ISO 9000:2015]. Eine Zertifizierung wäre dann die Bestätigung, dass das Mittel einem bestimmten Standard entspricht und somit gut geeignet ist, seinem Zweck zu dienen. Wenn sich aber die Aufmerksamkeit nur darauf richtet, dass das System den von außen gesetzten Standards entspricht, und die tatsächliche Dienlichkeit für seinen eigentlichen Zweck gar keine Rolle spielt, verkommt das System und die ganze Arbeit daran zum ressourcenschluckenden Selbstzweck. Dies gilt verbreitet für das Qualitätsmanagement, aber auch in anderen Managementbereichen besteht die Gefahr, dass die Fütterung und Befriedigung von Systemen Vorrang vor den Bedürfnissen der Kunden und des Unternehmens genießt.

Wie kontraproduktiv die Forderungen nach Systembefriedigung geworden sind, zeigt sich am Beispiel des Gesundheitswesens. Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger müssen bei der Behandlung bzw. der Pflege der Patienten so viele Papiere, Formulare und IT-Masken ausfüllen, dass das Gefährdungsrisiko wegen dieser Arbeiten größer ist, als die durch sie gewonnene Sicherheit. Der Leiter einer Rettungswache des Deutschen Roten Kreuzes berichtete, dass sich das immer irrsinnigere QMS spürbar negativ auf die Motivation seiner Mitarbeiter*innen auswirkt. Er erkannte die große Gefahr, dass dadurch mehr Fehler passieren.

 „Die Mitarbeiter sind grundsätzlich motiviert. Es sind die Systeme und die Arbeitsbedingungen, die Mitarbeiter demotivieren.“ [Reinhard K. Sprenger, Mythos Motivation]

Die Kernfrage ist: Wer dient hier wem? Unterstützt mich mein System oder hindert es mich an der eigentlichen Arbeit? Anders ausgedrückt: Schafft das System Mehrwert oder vernichtet es Wert? Eine Vorschrift kann als sinnvoll angesehen werden oder als lästige Gängelung.

Die Kunst ist es, den optimalen Umfang an Regelungen zu finden. Regeln Sie nur so viel, wie unbedingt nötig. Wie viel und was das im Einzelnen ist, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, wie Unternehmenskultur, Art der Tätigkeit, Kompetenz der Mitarbeiter*innen. Seien Sie sich dessen bewusst, dass es bei jedem Regelungssystem einen Punkt gibt, an dem es kippt und kontraproduktiv wirkt, weil sich Sinnhaftigkeit in Irr-Sinn umkehrt.

Berücksichtigen Sie, dass wir uns in Deutschland, Österreich und der Schweiz in der beneidenswerten Position befinden, über im Weltmaßstab hervorragend qualifizierte Belegschaften zu verfügen.

Die Gefahr, durch zu viele und zu detaillierte Regelungen, Kompetenz und Motivation der Mitarbeitenden zu unterdrücken, ist weit größer, als die Notwendigkeit, Kompetenzdefizite durch Standards und Vorgaben zu kompensieren.

 

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ISO 9001 ohne Norm- und Systembefriedigung: